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bildungsversuch am rand der gesellschaft. ein besuch in der einzigen deutschen roma-schule. aus nachrichten parität 4/2003

abschiebung


Lernen mit der Abschiebung vor Augen


Erste Kita und Schule für Roma

Maci platzt kurz vor Schulschluss ins Zimmer. „Ich hab‘ gestern eine Flasche Asbach getrunken, ging nicht früher", sagt der Sechzehnjährige und lacht. Sein Handy piept eine Melodie, er holt es aus der Tasche. „Ach Maci", sagt Lehrer Karlo Nagel nur, dreht sich wieder zu den anderen um und erzählt weiter von den Grabräubern in den Pyramiden. Unterricht im Schulprojekt des Fördervereins Roma e.V., Deutschlands einzigem für Roma, ein Stockwerk über Deutschlands einzigem Kindergarten für Roma, mitten in Deutschland, mitten in Frankfurt am Main. Bildungsversuche am Rand der Gesellschaft.

„Sie leben ein komplett anderes Leben als deutsche Kinder", sagt Sabine Ernst, Leiterin der Kindertagesstätte. „Sie sind viel draußen oder sitzen daheim zusammen vorm Fernseher, und in der einen Ecke des Zimmers liegt ein Stapel Matratzen, die abends zum Schlafen ausgelegt werden."
Mal kommen drei Jugendliche in Nagels Klasse, manchmal zwölf. Die Fluktuation ist groß. „Viele müssen früh Erwachsenenaufgaben übernehmen, auf Geschwister aufpassen, auf die kranke Oma", sagt Nagel. „Die Familien setzen andere Prioritäten. Wir versuchen hier erstmal, den Gedanken von Schule in den Familien überhaupt zu implantieren."

Viele Roma leben in den schäbigen Räumen dieser cleveren Hotelbesitzer, die den Kundenfang längst aufgegeben haben. Sie lassen sich ihre Absteigen vom Sozialamt füllen. Die meisten Roma haben dagegen vom Sozialamt nicht viel zu erwarten. „Sie kriegen meistens Geld nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, das ist die unterste Klasse der Sozialhilfe", sagt Sabine Ernst. Bei diesem „minimalen Geld", fügt sie hinzu, ist es dann „nur logisch", dass das Geld anders verdient werden muss. Auch von Kindern: „Und viele sind natürlich stolz darauf, schon selbst ‚Geld gemacht‘ zu haben."

Mitte der Neunziger boten an der Hauptbahnhof-Südseite neben den Strichern so viele zehn- bis dreizehnjährige Roma-Jungen ihre Körper an, dass das Jugendamt nicht mehr weiter wusste. In der ganzen Stadt häuften sich die Beschwerden über aggressives Betteln für den Lebensunterhalt der Familie, über Kinder, die nicht in die Schule gingen, statt dessen in Grüppchen durch die Stadt zogen, stahlen.

„Damals kam das Jugendamt auf unseren Verein zu", erzählt Sabine Ernst. „Das Grundproblem war, jemanden zu finden, der Zugang zu diesen Menschen hatte. Man wollte ja nicht kriminalisieren sondern helfen." Kurz darauf entstand das Projekt „Schaworalle", zu deutsch „Hallo Kinder". Aus dem Versuch, Kinder von der Straße zu holen und auf den Schulbesuch vorzubereiten, ist heute ein Kindergarten geworden, eine Schulprojekt und ein Schutzraum, in dem die Regeln der Roma geachtet, in dem die der Mehrheitsgesellschaft erklärt werden. Vermittlungsversuche zwischen zwei Welten.

Maci war früher auf einer deutschen Schule. Da gab‘s viel Ärger, erzählt er. „Hier ist es besser, hier sind nur unsere Jungs." Ein Jahr noch, sagt er, dann will er seinen Abschluss machen, „wenn nicht, hab‘ ich kein gutes Leben." Er grinst, will Ingenieur werden, „Häuser bauen". Bücher liest er nur in der Schule. Sonst geht er in die Stadt, „Mädchen anmachen".

Bildung ist für die meisten Roma ein Fremdwort. Auch wenn viele Mütter und Väter wollen, dass ihre Kinder lesen, schreiben können, etwas lernen: „Viele Eltern wissen aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, als Zigeuner in die Schule zu gehen", sagt Sabine Ernst. Sie misstrauen den Institutionen der Gesellschaft, die sie ausgrenzt. Sie haben Angst, dass ihnen ihre Kinder entfremdet werden. Wichtiger, sagt Sabine Ernst, sind die „Fertigkeiten, die man fürs Überleben braucht".

Die Frage nach dem Abschluss ist „zweitrangig", sagt Karl Nagel, der zusammen mit einer Kollegin vom Schulamt zu den Roma geschickt wurde und täglich vier Stunden gibt. Um „Basiswissen" geht es.

„Wir versuchen hier, auf die andere Kultur, die Situation der Jugendlichen einzugehen", erzählt er. Das ist der Grund, warum der Unterricht erst um 9.30 Uhr beginnt: „Um acht würde keiner kommen."
Unterricht gibt‘s für die Kinder von sieben bis 16 Jahren in drei Gruppen, eingeteilt wird nach Alter und Vorwissen. Der Stoff, sagt Nagel, ist „viel, viel weniger" als anderswo. „Wenn wir den Lehrplan der Hauptschule anlegen würden, wir würden scheitern."

Ziel bleibt der Abschluss trotzdem. Der Verein ist gerade dabei, ein neues Projekt durchzudrücken, Mittel von der EU und der Stadt sind beantragt: Eine Qualifizierung für den Hauptschulabschluss mit Schulstunden und Betriebspraktika für 15 Jugendliche. Motivierungsversuche für das Leben in einem Land, das viele von ihnen gar nicht will.

David sitzt auf gepackten Koffern. „Er hatte sogar eine Lehrstelle als Karosseriebauer gefunden, und das ist verdammt schwer, wenn man nur eine Duldung hat." Die Duldung gilt als Passersatz und maximal zwölf Monate. Viele, sagt Sabine Ernst, sitzen wie der 18-jährige David in der Schule, sind vielleicht schon seit zehn Jahren hier, und wissen doch nie, ob es in drei Wochen noch sein werden.

„Auch die Kleinen haben große Angst vor der Abschiebung", erzählt Eleonora Caldaras, die gerade vom Unterricht aus der Grundschulklasse kommt. „Manche erzählen davon, anderen merkt man es auch so an, dass sie Depressionen haben, fix und fertig sind." Gleichzeitig, sagt sie, macht es ihnen „richtig Spaß", Deutsch zu lernen. „Wenn sie wüssten, dass sie bleiben dürften, dann hätten sie auch gute Chancen, eine Ausbildung zu machen und eine Arbeit zu finden - hier, nicht in Rumänien", sagt die Erzieherin. Die 22-Jährige lebt in Deutschland, seit sie sechs Jahre alt war: „Für mich wäre Rumänien ein fremdes Land, auch wenn ich dort geboren bin." Nur aufmuntern kann man die Kinder, sagt sie, „sonst nichts". Und für viele „ist es hier wie eine Insel". Ein Platz ohne Ausgrenzung und Angst.

Roma-Kinder erzählen andere Geschichten. Auch im Kindergarten. „Sie kommen her und berichten, wie sie von der Polizei festgenommen worden sind, Sachen die kein Fünfjähriger zu seiner Geschichte machen würde", sagt Sabine Ernst. Der achtjährige Marco flitzt am liebsten mit dem roten Bobbycar über den Hof hinterm Haus, zwischen den Spielgeräten, dem Sandkasten und der Rutsche durch.

„Heute morgen kam er und erzählte, wie er gestern abend mit Freunden gespielt hat, Polizisten kamen, sie beschimpften und mit Handschellen drohten", berichtet Kindergartenerzieherin Regina Hohnschild. Die Kinder, sagt sie, haben alle „zu viele Polizeierlebnisse auf allen Ebenen". Wenn andere Kinder von den Teletubbies erzählen, „erzählen sie von der Polizei". Manchmal, wenn sie morgens mit dem Ford-Transit unterwegs ist, um die Kinder einzusammeln, laden die Nachbarn erstmal all ihren Ärger bei ihr ab. „Die Kinder sind für die an allem schuld, und beim Versuch, mit solchen Leuten zu reden, beißt man auf Granit."

Die 25 Jungen und Mädchen im Kindergarten lassen sich das von außen ebensowenig anmerken, wie die in den Schulgruppen. In der „Schaworalle" geht es umtriebig her, laut zuweilen, lustig. Jessica, funf Jahre alt, zeigt stolz die Puppe, die alle neulich zusammen genäht haben: „Die ist so groß wie ich!" Jessica war‘s, die sich aufs Laken gelegt hat, die anderen haben den Umriss abgezeichnet, mit Unterstützung der Erzieherinnen ist eine lebensgroßer „Manusch", ein Mensch entstanden. An der Wand hängt neben vielen Fotos und Basteleien Jessicas Name, selbst gebastelt, in großen ausgeschnittenen bunt bemalten Pappbuchstaben.

Die Sprache der Roma kennt keine Schrift. „Das ist doppelt fremd", sagt Sabine Ernst. Schreiben lernen in einer anderen Sprache, aber die Kinder lernen mit Begeisterung. „Es stellt sich halt immer wieder die Frage, wie wir es schaffen, dass aus der Perspektive, die wir den Kindern pädagogisch geben, auch eine wirkliche Perspektive werden kann", sagt Sabine Ernst. „Manchmal ist es schon ein bisschen hoffnungslos; die Aufenthaltsprobleme verschärfen sich."

Bildungsversuche am Rande der Gesellschaft. Da zählen die kleinen Erfolge doppelt. „Wenn ein Kind lesen lernt, ein Kind lachen kann, zwei wilde Racker ein Memoryspiel zu Ende spielen", sagt Regina Hohnschild. „Oder wenn mich mal einer der Großen im Scrabble besiegt", sagt Sabine Ernst. „Und das sind durchaus Sachen, die für diese Kinder nicht normal sind."

Wolfgang Frey

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