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neue heimat. tina hat in einer familiengruppe des albert-schweizer- kinderdorfs ein neues zuhause gefunden. für nachrichten parität 2003

Endlich: ein Zuhause, eine Familie

Kinderdorf mit Ambitionen

"Zuhause hat nichts geklappt", sagt Tina*. "Und dann war ich in insgesamt sechs Pflegefamilien und Heimen." Tinas Odyssee dauerte neun Jahre. Heute ist sie 14 und lebt seit fünf Jahren in einer Familiengruppe des Albert-Schweitzer-Kinderdorfs (ASK) Hanau. "Das ist meine längste Familie", sagt sie. "Und es ist gut so, dass ich jetzt hier bin."

Tinas Mutter ist schizophren. Überfordert mit ihrem eigenen Leben, ihrer Tochter. Sie schafft es einfach nicht. Tina wird hin- und hergereicht. "Als Kind bist du halt jünger, du lebst so, denkst nicht viel darüber nach", erzählt Tina. "Aber das war definitiv nicht gut, ich hab's über mich ergehen lassen. Wenn man kleiner ist, lässt man sich halt mehr gefallen." Wie "ausprobiert und weitergegeben" hat sie sich gefühlt, sagt sie und: "Ich kannte es halt nicht anders."

Heute lebt Tina zusammen mit vier anderen Kindern, Pflegemutter, -vater und Hund in einer Kinderdorffamilie. Sie geht zur Schule, macht ihre Hausaufgaben, hat ihre Freunde, liest gerne und fährt gern Rad. Ein Stück Sicherheit, ein bisschen Ruhe, ein wenig Normalität. Keine Angst mehr, dass die Mutter wieder zusammenbricht, in die Psychiatrie eingewiesen wird, Tina wieder hin- und hergeschubst wird.

"Die Kinder sollen bei uns in einem ganz normalen, familienähnlichen Umfeld aufwachsen können", sagt Annette Kühn-Schwarz, Bereichsleiterin und selbst Familiengruppenleiterin.
In den neun Familiengruppen des ASK Hanau leben knapp 40 Kinder. Manche sind schon als Säuglinge schwer misshandelt worden, andere sind zu Hause am Ende nur noch über leere Schnapsflaschen, Tablettenpackungen und Heroinspritzen gestolpert, wieder andere kamen mit sieben oder acht Jahren stark verhaltensauffällig ins Kinderdorf - oft wegen Vernachlässigung.

Vielen von ihnen wurde die Kindheit schlicht geraubt, sie mussten viel zu früh viel zu viel Verantwortung für sich selbst und ihre Eltern übernehmen. "An Schicksalen gibt es alles, was man sich vorstellen kann", sagt Kühn-Schwarz. "Wir haben es hier eben mit dem Leben zu tun."

Zu Tinas Leben gehört ihre Mutter. Vor zwei Jahren wünschte sich Tina nichts sehnlicher, als dass alles wieder gut würde, sie wieder bei ihrer Mutter leben könnte. Zusammen mit dem Jugendamt erarbeitete das ASK Hanau einen "Rückführungsplan" mit immer mehr Kontakten, mehr gemeinsamer Zeit mit der Mutter.

Die Familiengruppen sind keine Endstation. "Wir versuchen, wenn möglich, dass die Kinder Kontakte zu ihrer Familie behalten und ihnen gleichzeitig bei uns ein anderes Modell von Familie zu bieten", sagt Kühn-Schwarz.

Das mit den Kontakten ist mitunter schwierig. Die Eltern haben ihre Kinder nicht freiwillig hergegeben. Sie beobachten oft mit Argwohn, wie "ihnen von uns vorgeführt wird, was sie nicht geschafft haben". Aber, fügt Kühn-Schwarz hinzu: "So schwierig es zu Hause war, egal, was den Kindern angetan wurde, sie lieben ihre Eltern und wir wissen, das sind ihre primären Bezugspersonen."

Manchmal klappt es, dass die Kinder wieder nach Hause können: Das ASK Hanau kümmert sich nicht nur um die Kinder, es sucht zusammen mit den Familien nach Lösungen.

Bei Tina hat das nicht funktioniert. Als ihrer Mutter klar wurde, dass sie ihre freien Wochenenden mit ihrem ebenfalls psychisch kranken Freund gegen zwei Tage mit Tina eintauschen müsste, brach sie überfordert zusammen, kam erstmal wieder in die Psychiatrie. "Wir versuchen es", sagt Kühn-Schwarz, "und wenn es schief geht, dann sind wir da, um die Kinder aufzufangen."

Die Auffangzentrale ist längst nicht mehr das Kinderdorf selbst. Auch wenn nach wie vor "Kinderdorf" auf den Wegweisern zu dem 1975 eröffneten Gelände am Rand der Hanauer Innenstadt steht: In den sieben Häusern auf dem parkähnlichen Gelände wohnen keine Familiengruppen mehr. 2001 hat die letzte das Dorf verlassen. Der Gedanke der Dorfgemeinschaft hat gut funktioniert, erinnert sich Kühn-Schwarz. "Aber die Kinder mussten sich damals praktisch nicht nach außen orientieren, sie fanden Spielgefährten auf dem Gelände, es gab so etwas wie einen Effekt der Ghettoisierung."

Die externe Unterbringung, eine anfangs aus Platzmangel geborene Idee, entwickelte sich ob der positiven Erfahrungen schließlich zum eigentlichen Modell, auch wenn es da zunächst ganz andere Schwierigkeiten gab. Kühn-Schwarz: "Gehen Sie mal zu einem Makler und sagen, sie wollen ein Haus für Frau, Mann, fünf Kinder und einen Hund. Sie werden ausgelacht."

Also kaufte das ASK Hanau einige Häuser oder gewährte den Pflegefamilien Zuschüsse. Die Familiengruppen leben jetzt in und um Hanau, "mit einem größeren Stück Normalität und auch Anonymität", sagt Kühn-Schwarz, "eben ohne die Kinderdorfadresse im Ausweis".

Das Hanauer Dorf des Trägervereins Albert-Schweitzer-Kinderdorf Hessen e.V. ist heute eine Auffangzentrale anderer Art. "So unterschiedlich die Lebenssituationen sind, so unterschiedlich müssen die Lösungen sein", sagt Kühn-Schwarz. "Nicht für alle Jungen und Mädchen aus Problemfamilien ist die klassische Familiengruppe die beste Lösung."

Gut 50 Kinder werden in Tagesgruppen von morgens bis abends und in Wochengruppen von Sonntag- bis Freitagabend betreut - längstens zwei Jahre. Andere, meist Jugendliche, leben in Wohngruppen mit wechselnden Betreuern oder wohnen in einem Appartement auf dem Gelände - je nach Bedarf. "Da arbeiten wir dann entweder daran, dass die Jungen und Mädchen wieder ganz in ihre Familien zurück können oder versuchen Jugendlichen, den Start in ein selbstständiges Leben zu erleichtern, in abgestuften Formen von Angeboten", erläutert Kühn-Schwarz.

Seit 1997 setzt das ASK Hanau mit dem Kriseninterventionsprogramm "Familie im Mittelpunkt" noch früher an. Nicht erst, wenn die Situation eskaliert, nein, schon mitten in und am Schauplatz der Krise. "Es muss nicht immer gleich die Polizei mit Blaulicht kommen, wenn Eltern ihre Kinder verprügeln", sagt Kühn-Schwarz. "Häufig rufen auch Menschen beim Jugendamt an, wenn sie nicht mehr weiter wissen. Dann kommen unsere Helfer." Und zwar, während der Ärger noch am kochen ist, bevor sich die Fronten so verhärtet haben, dass sich nichts mehr bewegt. "Die Idee ist, die Selbstheilungskräfte, die es in den Familien gibt, ihre Resourcen der Problemlösung zu mobilisieren", erklärt Kühn-Schwarz.

Hilfe zur Selbsthilfe, 15 Stunden in der Woche, vier Wochen lang. Als erstes versucht der Familienhelfer Sicherheit für alle zu schaffen, spätestens am dritten Tag steht das gemeinsam erarbeitete Lösungskonzept, das dann umgesetzt wird. "Wenn eine Wohnung total heruntergekommen ist, kann das heißen, dass erstmal aufgeräumt und geputzt wird und die Zimmer wieder hergerichtet werden", sagt Kühn-Schwarz. Oder ein Alkoholiker willigt ein, eine Therapie zu starten.

Egal, in welchem Bereich die 120 Mitarbeiter des ASK Hanau gerade helfen, intervenieren, nach Lösungen suchen: Albert-Schweitzers Ideal der "Ehrfurcht vor dem Leben" ist dabei der Leitgedanke. "Egal, was die Kinder erlebt und erlitten haben, sie haben einen ganz großen Willen zu leben, zu lernen", sagt Kühn-Schwarz. Der ist zwar manchmal verschüttet, "aber wenn wir beginnen, den Schutt zur Seite zu räumen, kommt dieser Wille wieder zum tragen und die Kinder können sich wieder selbst helfen, sie bekommen wieder eine Perspektive."

Tina ist ihre Geschichte auch heute noch anzumerken. Sie spricht nicht viel über das Erlebte, wirkt manchmal ein bisschen verschlossen, hat, wie sie sagt, auch vieles einfach vergessen. Doch sie hat inzwischen genug Schutt zur Seite geräumt, um ihr Leben in die Hand zu nehmen, wieder von etwas schönem, von der Zukunft träumen zu können. "Ich möchte das Abi machen", sagt sie, "und dann ist mein größter Wunsch, in einer Betreuungseinrichtung für Behinderte zu arbeiten."

*Name von der Redaktion geändert

Wolfgang Frey


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