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wenn das geld nicht fürs essen reicht. für nachrichten parität bei der darmstädter tafel, 2003

Im Speisesaal der Verlierer

Die Darmstädter Tafel tischt auf

"Die hab' ich für zwei Euro gekauft", sagt Heidi Harth, zeigt auf ihre Hose und grinst. Ganz in der Nähe gab's die, im Second-Hand-Markt. Nur ein kleines Stück weiter runter auf dieser staubigen Schlaglochpiste am Stadtrand von Darmstadt. Den Schlussverkauf kann sie sich nicht leisten. "Ich suche seit zwei Jahren dringend Arbeit, bin zu allem bereit, aber keiner will mich, trotz Fortbildung", erzählt die 53-Jährige Ex-Altenpflegerin. Ihr Geld reicht "hinten und vorne nicht, sonst wäre ich nicht hier." Bei der Darmstädter Tafel. Im Speisesaal der Verlierer.


"Arbeit verloren, Alkohol, Wohnung gekündigt, Frau weg, Straße - das ist so ein typischer Teufelskreis", sagt Doris Kappler, Initiatorin, Vorsitzende der Darmstadter Tafel e.V. und im Hauptberuf Galeristin. "Das eine sind Kunst und Kultur, und hier spielt das Leben." Ihre Gäste - "ich rede nie von Bedürftigen" - haben mal ein krummes Ding gedreht, sind auf Drogen gekommen, haben eine Rente, die nicht reicht. Oder sie haben ein Kind, aber keinen Job und auch keinen Mann, der einen hätte.

In dem niedrigen, ziegelgedeckten Steinhaus, das wirkt, wie eine etwas zu groß geratene Pförtnerbaracke einer Fabrik, macht der Verein fünfmal die Woche Essen aus dem, was andere sonst einfach wegschmeißen würden. Essen für Menschen statt für den Schweinetrog, den Kompost oder die Müllverbrennung.

"Ich weiß, was Hunger ist", sagt Doris Kappler. "Ich erinnere mich noch gut daran, wie meine Mutter mit dem Rad über die Dörfer fuhr, um für mich und meine Schwester was zu essen zu besorgen. Mein Vater war ja noch im Krieg." Als sie Mitte der Neunziger im Radio von der Berliner Tafel hörte, war sie begeistert von der Idee und suchte per Zeitungsanzeige Mitstreiter. Beim ersten Treffen der Interessierten war der Darmstädter "Ratskeller" voll.

"Die Idee war einfach, dass Menschen wenigstens etwas zu essen haben sollten, wenn sie schon kein Geld haben", sagt Kappler. "Und es gibt so viele Supermärkte, Bäcker und Gaststätten, die sich verkalkulieren und nachher Lebensmittel wegschmeißen."

Kistenweise sammelt der Zivildienstleistende der Darmstädter Tafel heute mit den Kühlauto jeden Tag Brote, Torten, Kaffestückchen, Milchprodukte, Fleisch, Wurst, Nudeln, Fertigsalate, Obst und Gemüse ein - bei Supermärkten, Bäckern und Restaurants.

"Montags ist es bei uns manchmal wie in einem Luxusrestaurant. Dann gibt's schon mal Lachshäppchen und feines gegrilltes Fleisch", sagt Kappler. Da hat dann am Wochenende wieder mal ein Hotel beim Bankett zu viel aufs Buffet gehäuft und die Darmstädter Tafel zu Hilfe gerufen.
"Ohne unseren Lieferwagen mit Kühlung ginge das nicht", sagt Kappler. Den gab's geschenkt, wie den Kühlraum, obwohl in den auch noch viel Arbeit reingesteckt werden musste. Wenn auch nicht so viel, wie in das kleine Häuschen mit Küche und Speisesaal, für das der Verein jeden Monat symbolische 150 Euro an die Stadt überweist.

"Das war mal ein Kohlenhandel, dann eine Schaustellerwerkstatt, es war in einem Zustand, das hätte man abreißen müssen", erinnert sich Kappler. Die Wände verschimmelt, der Fußboden nass: Drei Monate dauerte der Umbau - mit Hilfe des Internationalen Bundes für Sozialarbeit und einem Kredit von 15.000 Euro, an dem der Verein heute, sieben Jahre später, noch abbezahlt. "Am sechsten Januar 1996 haben wir eröffnet", erzählt Kappler, "das werde ich nie vergessen: Nur einer kam, zu Spaghetti mit Tomatensoße."

Aber dann hat es sich "schnell 'rumgesprochen" und heute kommen jeden Tag bis zu hundert Menschen: zum Essen oder zum Essen mitnehmen, es ist genug da.

In der Küche bereitet Ursula Summer, neben der Putzfrau die einzige Hauptamtliche, jeden Tag 50 bis 60 Portionen zu - aus dem, was es eben grade geschenkt gibt: "Ich sammel' halt auch immer was im Tiefkühler, für Tage, wo's mal nicht reicht", sagt sie, "irgendwie kriegen wir immer ein Essen hin: Suppe, Salat, Hauptgericht, Kaffee und Kuchen. Es hat noch immer für alle gereicht."

Summer kocht gerade zusammen mit zwei ehrenamtlichen Helferinnen 30 Liter Champignoncremesuppe, gesponsert von einer Werkskantine, gefüllte Hähnchenbrust, abgeschriebene Ware von einem Großhändler. Dazu gibt's an diesem Freitag Paprika-Sahnesoße, Kartoffelbrei, Gurken-, Rettich-, Tomaten- und grünen Salat.

Derweil packen sich die Gäste draußen ihre Tüten voller Brote, Obst und stürmen wie jeden Freitagmorgen den "Laden", den kleinen Raum neben dem Speisesaal, der von Fleisch bis Vanillequark fast alles zu bieten hat: "Vergiss' nicht die Eier mitzunehmen, damit dein Mann was zu essen hat", sagt Klaus Gutwien, der heute den Laden schmeisst, zu der Frau mit der Nummer acht. Draußen stehen die anderen Schlange, jeder einen Zettel mit einer Zahl drauf in der Hand. "Komm' schnell, nimm' noch zwei Päckchen Margarine mit und hier sind noch Nudeln!", ruft Gutwien der jungen Frau zu. Nummer neun steht schon vor der Tür.

Birgit Müller war schon dran. Die 42-Jährige steht mit ihrer Tochter draußen, neben sich drei große Plastiktüten mit Salat, Gemüse und Fertiggerichten. "Wenn wir Sozialhilfe kriegen würden, bräuchte ich mich um nichts kümmern", sagt sie. "Aber wenn uns jetzt die Waschmaschine verreckt, müssen wir uns das vom Mund absparen." Sie haben "dreißig Euro zuviel" im Monat, sagt Birgit Müller: die Arbeitslosenhilfe von Nicoles Vater, der seit drei Jahren einen Job sucht und das Geld, dass sie selbst beim Putzen verdient.

Die Müllers leben zu dritt auf 36 Quadratmetern und wenn bei der 11 Jahre alten Nicole mal wieder ein Klassenausflug ansteht, kriegt Birgit Müller regelmäßig die Krise: "Aber wir wollen ja nicht, dass sie wie eine Außenseiterin dasteht." Mit dem Essen, dass die Darmstädter Tafel auftischt und verteilt, bringt sie ihre Familie gerade so über die Runden.

Drinnen sitzt Klothilde Midinet an dem langen Tisch, an dem es gleich was zu essen gibt. "Die letzten 28 Tage im Monat sind halt immer die härtesten", scherzt sie. Weder "arm noch obdachlos" ist sie, sagt die 73-Jährige, aber die Zuzahlung für neulich drei Monate Krankenhaus, die Kaution für die kleine Wohnung und der Kredit, der an ihr hängenblieb, weil sie für einen Schuldner bürgte, der mitten in der Abzahlung starb: "Da bleibt nicht viel über."

Klothilde Mininet kommt jeden Tag. "Manchmal muss man die Ohren halt auf Durchzug schalten", sagt sie. "Es ist nicht immer der beste Jargon hier." Aber das macht ihr nichts aus. Das Essen, sagt sie, ist "gut, reichlich, und abwechslungsreich". Fürs Wochenende, erzählt sie, hat sie noch Lauch und Kohlrabi zu Hause, "das reicht dann auch bis Montag".

Dann wird die Tafel wieder was auftischen. Obwohl es schwieriger geworden ist. "Die Supermärkte kalkulieren heute knapper als früher, haben nicht mehr so viel übrig", sagt Doris Kappler.

"Manchmal ist es schon ein Kampf." Und dann hat sie noch ein paar dunkle Vorahnungen: "Wenn sie hier wie geplant die neue Straße bauen, sind wir weg und können uns was Neues suchen. Über uns schwebt die Abrissbirne". Sie schaut in die Runde ihrer Gäste: Wenn einer ein Zuhause hat, Arbeit und Freunde, sagt sie dann, "kommt er doch nicht hier her".

Bald schon, glaubt sie, könnten es noch mehr werden: "Sozialpolitisch ist doch gar kein Weg in Sicht. Die Politiker müssten den Menschen eine Perspektive geben, aber statt echte Reformen anzupacken, wird nur geredet. Demnächst wird es noch mehr Verlierer geben und dann werden wir noch mehr zu tun bekommen.

Wolfgang Frey


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